SoSe2020
Jürgen Frankenstein-Frambach
Fotografie
05
Portrait Interpretation
Fünfter Brief
Liebe Teilnehmerinnen, liebe Teilnehmer,
Im Nachgang zur Videokonferenz möchte ich, wie angekündigt, zusammenfassend und ergänzend auf einige grundsätzliche Kategorien der vorgestellten Portraitklassiker eingehen.
Die in den Gesichtern der abgebildeten Personen ablesbare Emotionalität, erreicht uns nahezu zeitgleich mit der in den Körperhaltungen zum Ausdruck gebrachten Bildkonzeption. Während die Mutter mit ihren Kindern die Kamera ignoriert, hält die Farmersfrau unseren Blicken stand. Sie schaut aus kurzer Entfernung ins Objektiv und lässt uns hinsichtlich einer getroffenen Übereinkunft mit dem Fotografen nicht im Ungewissen. Dorothea Lange spielt mit den Möglichkeiten. Es ist nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass die Aufnahme ohne vorherige Absprache entstanden sein könnte und bekommt dadurch mehr Spontaneität und Authentizität. Sie hat szenischen, narrativen Charakter. Wir erfahren etwas über ihre Kinder, über ihre (Zelt Unterkunft und der sorgenvolle Blick zum Horizont spricht eine deutliche Sprache.
Diesen Stil hat D. Lange bei ihren Fotografien gern gepflegt. Mit einer auf Anteilnahme zielenden Dramaturgie choreografiert sie ihre Arbeiten und pflanzt uns das von Not und Verzweiflung geprägte Gefühl der Menschen unter die Haut. Die Aufnahmen sind mit dem Einverständnis der Abgebildeten entstanden und können insofern auch als inszeniert bezeichnet werden. In Anbetracht der tatsächlichen prekären wirtschaftlichen Lage und auf dem Hintergrund der Zielsetzungen des New Deal behalten sie ihre Legitimität und fanden große Anerkennung und Verbreitung. Die Fotografin musste allerdings in Kauf nehmen, dass ihr die Protagonisten (Migrant Mother) keinen Beifall spendeten. Die Kinder meldeten sich zu Wort, sie hassten das Bild und haben korrigierend den Charakter ihrer Mutter optimistischer gezeichnet.
Walker Evans, auch als Dokumentarist bezeichnet, geht einen anderen Weg. Mit seiner frontalen Aufnahme sind Fragen bezüglich ihres Zustandekommens sofort beantwortet und deshalb überflüssig. Dass hier ein Dialog stattgefunden hat, ist nicht zu bezweifeln und soll auch nicht verschwiegen werden. Das Bild wirkt nicht inszeniert, es enthält keine suggestiven Beigaben, nichts Gestelltes, mit der Absicht, ein bestimmtes Gefühl zu induzieren.Mit einer sachlich nüchternen Herangehensweise wollte Walker Evans individuelle Neigungen und Einstellungen aus dem Spiel lassen, weshalb in seinen Aufnahmen, mehr als bei D. Lange, über das rein Situative hinaus verallgemeinerbare Aussagen über die Bedingungen der menschlichen Existenz mitschwingen.
Mit dieser kurzen „Paraphrase“ sollten einige Wesensmerkmale der Portraitfotografie zur Sprache kommen, die einen zeitlosen Charakter besitzen und sowohl für die historischen Beispiele, als auch für aktuelle Arbeiten auf diesem Gebiet Gültigkeit haben. Wir kommen später nochmals darauf zurück.
Aufgabe Blaue Stunde
DB Hochhaus Berlin. 2015.
Foto: Jürgen Frankenstein-Frambach.
Für die Präsenzveranstaltungen eignet sich das vorangegangene Thema sehr gut als Übung. Es ist facettenreich und trägt zur Belebung des Seminars bei. Bei dem zur Verfügung stehenden Zeitbudget ist es immer wichtig, an der richtigen Stelle ein Break einzubauen, da das Fotografieren und Besprechen der Bilder aufgrund der Informations- und Aktionsdichte relativ schnell zu einem Sättigungsgrad führt, der sich ungünstig auf Konzentration und Motivation auswirkt. Deshalb endet das Treffen üblicherweise ein wenig früher, und zwar mit einer Hausaufgabe zu einem neuen Thema. Die daraus resultierenden Ergebnisse werden später ausgewertet. Ein solches Thema und Ihre nächste Aufgabe ist die sogenannte „Blaue Stunde“. Eigentlich handelt es sich um die Bezeichnung eines bestimmten Zeitraumes, nämlich des Übergangs zwischen Tag und Nacht, der jahreszeitlich und ortsabhängig eine unterschiedliche Länge besitzt. Die Sonne ist untergegangen, die Straßenbeleuchtung eingeschaltet, in den Häusern brennt das Licht. Der Himmel erscheint jedoch noch nicht in nächtlichem Schwarz, sondern reflektiert mit einem intensiven Blau das restliche Tageslicht. Kunstlicht und restliches Tageslicht kommen gleichzeitig zur Wirkung und erzeugen eine besondere Atmosphäre, eine Stimmung, die fotografisch reizvoll ist und in vielfältiger Weise gestalterisch genutzt werden kann.
Bei der Umsetzung könnten folgende Hinweise nützlich sein:
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Beginnen Sie nicht zu früh, damit Tages- und Kunstlicht eine gute Balance erhalten. |
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Achten Sie darauf, dass ein Teil des Motivbereiches durch den Himmel ausgefüllt wird. |
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Landschaftsaufnahmen kommen nicht infrage, da hier üblicherweise kein |
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Vergleichen Sie Automatikaufnahmen mit manuell gesteuerten, bei denen der |
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Bedenken Sie die durch das schwindende Licht bedingte verlängerte Belichtungszeit und die damit verbundene Verwackelungsgefahr. |
Kassel,
SoSe 2020
Viel Spaß!
Jürgen Frankenstein-Frambach