SoSe2020
Jürgen Frankenstein-Frambach
Fotografie
03
Wahrnehmen und Beurteilen
Dritter Brief
Liebe Teilnehmerinnen, liebe Teilnehmer,
Ein wesentlicher Bestandteil des Moduls ist die gemeinsame Betrachtung von Fotografien. Nicht nur die Bandbreite möglicher Ergebnisse mit ihren inspirierenden Wirkungen auf die eigenen Ideen, sondern auch bewusste und unbewusste Prozesse der Wahrnehmung und Beurteilungen können dabei gut in den Blick genommen werden.
Sicher ist es kaum notwendig, zu erläutern, was ein gutes Bild ist. Sie haben bereits unendlich viele Bilder aus vielen verschiedenen Themenbereichen gesehen und sind ohne weiteres in der Lage Interpretationen und Bewertungen vorzunehmen, also auch Bildsprache zu verstehen, zumal die Kernaussagen meist unmissverständlich dargestellt werden, wie wir z.B. im Bereich Werbung/Tourismus/Nachrichten etc. feststellen können.
Dörnberg. 2008.
Foto: Jürgen Frankenstein-Frambach.
Die hier gezeigte Landschaftsfotografie (Dörnberg), ist unmittelbar verständlich. Ihre Kernaussage gibt uns keine Rätsel auf und erschließt sich über den genüsslichen Blick in die Ferne bei sonnigem Wetter, saftigem Grün und leicht bewölktem Himmel. Die Aufnahme spricht die in unseren Köpfen bereits vorhandenen ästhetischen Wertekriterien an, bei denen es, bei aller Individualität, eine große Übereinstimmung gibt. Man könnte auch von einem Klischee sprechen, dessen Aussage aufgrund seines unablässig wiederholten Gebrauches allgemein bekannt ist und üblicherweise als weitgehend unschöpferisch gilt. Klischees erfüllen allerdings oft eine wichtige Funktion, da Sie eine äußerst sichere und schnelle Informationsvermittlung garantieren, wie etwa in den täglichen TV Nachrichten, deren Themenfelder meist mit einem Bildhintergrund veranschaulicht werden um eine unmittelbare Zuordnung zu ermöglichen. Ob eine Fotografie gefällt oder nicht, steht üblicherweise, sofern es sich um erkennbare normal belichtete Objekte/Situationen handelt, in wenigen Sekundenbruchteilen fest. In dem Statement „Ein gutes Foto ist ein Foto, auf dass man länger als eine Sekunde schaut“ von Henri Cartier-Bresson, wird dieser Aspekt überzeugend zum Ausdruck gebracht. Zum einen ist die Information nicht, wie beispielsweise bei einem Text kodiert, sondern bewegt sich so nahe an der Wirklichkeit, dass keine Übersetzung nötig ist, zum anderen, und dies ist ein zentraler Punkt, stellt sich immer unmittelbar beim Betrachten ein Gefühl ein, welches die Grundlage für unser Werturteil ist. Dies kann deshalb so schnell geschehen, da Erkennungsmuster und Einstellungen bereits in unseren Köpfen sind und direkt abgerufen werden. Es ist ein Mechanismus, der nicht einer Planung oder Entscheidung bedarf, der noch nicht einmal willkürlich unterdrückt werden kann. Ob mich eine Fotografie fasziniert oder abstößt muss ich nicht entscheiden — es passiert einfach. Diese Unmittelbarkeit unterscheidet das Bild von der Sprache. Im weiteren Verlauf der Betrachtungen kommen natürlich auch bewusste und gesteuerte Analysen hinzu, die u.U. zu Änderungen und Ausdifferenzierungen der Bildbewertung führen.
Farbe, Licht und Schatten. 2007.
Foto: Jürgen Frankenstein-Frambach.
Der Blick
Der Blick auf eine Fotografie ist etwas sehr dynamisches. Wir können die „Arbeit“ unseren Augen, überlassen, die ohne aktive Steuerung über das Bild gleiten und alle wichtigen Informationen aufnehmen. Der Blick bewegt sich zuerst zu den auffälligsten Elementen, wie intensive Farben und Helligkeitskontraste. Bereiche, die keine Differenzierung aufweisen, werden kaum oder nur kurz betrachtet. Man könnte von einer Ökonomie der Wahrnehmung sprechen, die auf Effektivität abzielt. Bei obigem Foto verharrt das Auge nicht lange auf den schwarzen Flächen, die nahezu leer sind, sondern bewegt sich vom Zentrum diagonal nach links oben und rechts unten, wo Information vorhanden ist. Dieser Prozess läuft unbewusst ab, kann aber auch jederzeit willkürlich gesteuert werden. Es eröffnet sich eine schöne Möglichkeit — nämlich, den eigenen Blick zu beobachten, ohne den unbewussten Verlauf zu stören. Wohin wandert das Auge, wie lange verharrt es? Dieser Ablauf ist bei uns allen sehr ähnlich, weshalb Sie bei Ihrer Bildgestaltung weitgehend festlegen können, wie es beim Betrachter ankommen soll. Überprüfen Sie Ihre Aufnahmen, ob irgendwelche Dinge von Ihrem Bildthema ablenken. Insbesondere die Schärfe/Unschärfeverteilung eignet sich zur Steuerung der Aufmerksamkeit, wie wir sie am Beispiel des Wischeffektes gut nachvollziehen können. Die Radfahrerin (Technische Grundfunktionen der Kamera) gefällt uns besser, wenn der Hintergrund unscharf ist. Es mögen weitere Gründe hinzukommen — sicher ist, dass das Auge weniger abgelenkt wird, da wesentlich weniger konkurrierende Objekte vorhanden sind.
Dies mag als erste Grundlage für einen bewussteren Umgang mit unseren Sehgewohnheiten genügen, so dass wir uns einem weiteren Thema, das im nächsten Brief behandelt werden soll, zuwenden können.
Kassel,
SoSe 2020
Mit herzlichen Grüßen
Jürgen Frankenstein-Frambach