SoSe2020
Jürgen Frankenstein-Frambach
Fotografie
04
Portraitfotografie
Vierter Brief
Liebe Teilnehmerinnen, liebe Teilnehmer,
Nach einer ersten Annäherung an das Thema Fotografie, den Versuchen zum Wischeffekt und deren Auswertung (die uns bei der nächsten Videokonferenz hoffentlich gelingt), folgt üblicherweise eine Portrait-Aktion, bei der in einer begrenzten Zeit an verschiedenen Orten Portraits entstehen, die sich möglichst deutlich von einem Passfoto unterscheiden und experimentellen Charakter haben sollen. Das Spiel mit Licht, Perspektive, diversen Kameraeinstellungen, unterschiedlichen Orten, Spontaneität und Kreativität kann dabei zu spannenden Ergebnissen führen. Nach einer kurzen Aufwärmphase wird es dann oft sehr lebendig in der Gruppe und man spürt den Spaß, den die Studierenden beim Portraitieren ihrer Kommilitonen entwickeln.
Die aktuelle räumliche Distanz lässt eine gemeinsame Übung nicht zu, weshalb ich mich zunächst auf einige theoretische Erwägungen beschränken möchte. Von der Bedeutung der Portraitfotografie im Alltag, in der Kunst, in der Werbung, im Journalismus und vielen anderen Bereichen kann man sich täglich selbst überzeugen. Wir werfen einen Blick auf uns selbst, prüfen unsere Identität, schlüpfen in verschiedene Rollen, fixieren Momente und teilen diese mit anderen. Häufig ist von Natürlichkeit die Rede, die Portraitaufnahmen ausstrahlen sollen, oder „gestellt“ wirkenden Bildern. Portraitbildern wird oft allerhand Potential unterstellt. Die Vorstellung, es könnten Charaktereigenschaften sichtbar gemacht werden ist recht verbreitet. Von August Sander heißt es gar, er sei mit der Kamera losgezogen und mit der Seele der Menschen heimgekehrt. Portraits von Martin Schoeller wird sogar nachgesagt, man käme bei Ihrer Betrachtung den abgebildeten Menschen näher, als würde man Ihnen persönlich begegnen — Kann man mehr von einem Portrait verlangen? In diesen Ansprüchen liegt einerseits eine große Wertschätzung, allerdings auch eine projektive Überschätzung. Gewiss kann man in den fotografierten Gesichtern einiges ablesen. Die Vieldimensionalität eines menschlichen Charakters ist jedoch sicher nicht in einer Fotografie unterzubringen, wohl aber ist es möglich verschiedenste Attribute hineinzulegen (projizieren). Portraits können auch misslingen, gestellt aussehen, langweilig oder beliebig oder auch klischeehaft wirken. Woran liegt das?
Werfen wir zunächst einen Blick auf zwei Klassiker der amerikanischen Fotografie aus der Zeit der Depression, der Weltwirtschaftskrise in den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts, als Franklin D. Roosevelt mit dem „New Deal“ die Lage der hungernden Landbevölkerung verbessern wollte. Die Aufnahmen sind nahezu zeitgleich in dem genannten Kontext entstanden und weisen einige Ähnlichkeiten auf. An dieser Stelle würde ich Sie gern bitten zu überlegen, welche Assoziationen sich bei der Betrachtung ergeben — was fällt auf, welches Gefühl wird angesprochen? Gelingt es uns, etwas über die situativen Bedingungen herauszufinden und ob sich die Einstellungen/Haltungen von Dorothea Lange und Walker Evans unter- scheiden? Wieviel Wahrheit enthalten die Fotos? Ergeben sich daraus verallgemeinerbare Kriterien, die für uns heute noch von Bedeutung sind? Dies würde ich gern in der nächsten Videokonferenz mit Ihnen besprechen und die Ergebnisse, zusammen mit einigen aktuellen Bezügen schriftlich zukommen lassen.
Aufgabe
Schrauben. 2011.
Foto: Jürgen Frankenstein-Frambach.
Hinzu kommt noch die Formulierung der nächsten Aufgabenstellung, die mit einem Beispielfoto illustriert ist. Es geht darum, etwas Gewöhnliches ungewöhnlich zu fotografieren. Nutzen Sie Ihr kreatives Potential und arbeiten mit Licht, Perspektive, Kameraeinstellungen, Bewegung etc. nach Belieben. Wählen Sie triviale Alltagsgegenstände, die Sie in Ihrem Haushalt vorfinden und fotografieren Sie diese so, dass interessante Aufnahmen entstehen. Banale Alltagsobjekte (und vieles mehr) lassen sich mithilfe der Fotografie visuell aufwerten und mit besonderen ästhetischen Eigenschaften ausstatten.
Kassel,
SoSe 2020
Viel Spaß!
Jürgen Frankenstein-Frambach