SoSe2020
Fotografie
Jürgen Frankenstein-Frambach
01
Künstlerische Grundlagen Modul Fotografie
Erster Brief
Liebe Teilnehmerinnen, liebe Teilnehmer,
ich freue mich, dass mit Hilfe des großen Engagements unserer IT Professionals vom FG Bildende Kunst das Angebot „Künstlerische Grundlagen“ zustande kommen wird — etwas anders als gewohnt, aber mit vielen neuen Ideen, Begegnungs- und Vermittlungsformen ausgestattet. Es ist für uns alle neu und es wird bereits vermutet, dass dies auch positive Auswirkungen auf die zukünftige Lehre haben könnte. Zunächst aber ist es aufwendiger, da vieles, was im Seminar sprachlich leicht zu vermitteln ist, nun in Schriftform gebracht werden muss. Der Austausch ist deutlich verzögert, die Entwicklung einer adäquaten Kommunikationsstrategie ist geboten. Ich möchte Ihnen zu Beginn in einer briefähnlichen Form einige allgemeine Erläuterungen zum Verständnis der Bedeutung der Fotografie geben, einem Medium mit universalistischem Charakter, mit dessen Hilfe nahezu alle denkbaren Inhalte direkt oder indirekt dargestellt oder illustrativ begleitet werden können und dessen Vermittlung im Studium im Bereich der Schlüsselqualifikationen angesiedelt ist.
Fotografie und Studium?
Wäre die Auseinandersetzung mit dem Thema Fotografie im Kontext eines wissenschaftlichen Planungsstudiums einer Legitimation bedürftig, so wäre eine solche unter den aktuellen Bedingungen spätestens obsolet. Eine Fortführung der Lehre unter Verzicht auf Bilder ist kaum praktizierbar, unanschaulich, abstrakt und „blutleer“. Aber auch ohne social distancing benötigt ein Lehrangebot zur Fotografie keine umständlichen Rechtfertigungen. Der Bedarf an Abbildungen in der täglichen Praxis ist evident, ähnlich selbstverständlich wie Sprache. Wir sind damit sehr vertraut und das Verständnis der Bildinhalte ergibt sich quasi automatisch. Zumindest für den Konsum ist dies zutreffend und alltagserprobt. Etwas komplizierter wird es jedoch, wenn man selber anschauliches Bildmaterial erstellen möchte und dabei die zahllosen Beispiele aus den Medien im Kopf hat, die i.d.R. mit großem Aufwand und professionellem Habitus produziert und verbreitet werden. Schnell erkennt man die eigenen Grenzen und merkt sehr bald, dass das Beurteilen einfacher ist, als das Herstellen von Bildern. Wir kennen auch die Wirkung von überzeugenden Aufnahmen und der Wunsch, die eigenen darstellerischen Fähigkeiten auszubauen, ergibt sich, gerade in einem Studium, bei dem Visualisierungen von zentraler Bedeutung sind, fast von selbst. Nicht alle bildlichen Darstellungen sind Fotografien, aber ich gehe davon aus, dass sich erweiterte Fähigkeiten bei der fotografischen Bildgestaltung auch positiv auf andere Formen zweidimensionaler Darstellungen auswirken. Soviel zur Begründung dieses Moduls.
Fragmentierter Spiegel. 2009.
Foto: Jürgen Frankenstein-Frambach.
Fotografie und Alltag
Fotografie ist eingebettet in unseren gesellschaftlich, kulturellen Alltag und erfüllt darin diverse Funktionen. Sie fungiert wie eine Sprache mit einer besonderen Grammatik, worauf an späterer Stelle noch einzugehen ist. Ihr Gebrauch hat sich durch technische Entwicklungen derart rasant gesteigert, dass Stimmen laut werden, die empfehlen, sich vor der täglichen lawinenartigen Bilderflut besser in Sicherheit zu bringen. So gibt es kaum Themen, die nicht direkt oder indirekt mit Bildern dargestellt, illustriert oder assoziativ begleitet werden können. Wir alle träumen in Bildern und in der Rangliste der Bedeutung unserer Sinne, steht das Sehen i.d.R. auf Platz eins. Eine Gelegenheit, an dieser Stelle darüber nachzudenken, was Fotografie ist und was sie leisten kann.
Was kann Fotografie leisten?
Wissen wir das nicht schon längst? Müssen wir diese Frage noch stellen? Fotografie kann begeistern, informieren, veranschaulichen, provozieren, irritieren, langweilen, in ferne Länder oder Phantasiewelten entführen, überzeugen, beweisen, dokumentieren, schockieren und so fort — eine Reihe, die man beliebig fortsetzen könnte. Zwei Aspekte, neben vielen anderen (die hier nicht zur Sprache kommen können) und die vielleicht nicht jeder sofort benennen kann, wären dabei jedoch besonders zu würdigen. Kaum ein anderes Medium macht die Schnittstelle zwischen Wirklichkeit und Vorstellung, Wirklichkeit und Phantasie so deutlich, wie die Fotografie, die ja eigentlich angetreten ist, im Bruchteil einer Sekunde die Dinge mit allen Details so realitätsgetreu abzubilden, wie wir sie mit unseren Augen sehen können. So beklagt P. Lunenfeld in einem medienkritischen Aufsatz den Verlust der Evidenz der Fotografie im Zuge der Digitalisierung. Er verweist auf die Indexikalität als einer zu bewahrenden Kerneigenschaft, mit der die Fotografie mit ihrer Realitätsnähe auf eine Objektwelt verweist, so unmittelbar, wie bspw. Rauch auf ein Feuer schließen lässt.
Andererseits bekämen wir von einem Objekt, das von hundert verschiedenen Personen fotografiert werden würde, hundert verschiedene Bilder, d.h. individuelle Interpretationen, bei denen es schwer fallen dürfte, zu entscheiden, welche nun dem Wesen des Abgebildeten (sofern es ein solches gibt), am ehesten entspricht. Ist vom Wesen einer Sache die Rede, so schwingt stets die Annahme einer von menschlichen Kategorien unabhängigen Betrachtungsform mit. Dieser Wunsch nach Objektivität wird von Italo Calvino gar nicht erst mitgedacht, wenn er feststellt, das sich im Medium der Fotografie die Konzeption von Realität als Produkt der Imagination ausweist. Er wirft damit zumindest ein weiters Licht auf die Relevanz dieser Frage. Ist die fotografierte Realität damit also nur eine imaginäre, eine bloße Vorstellung oder doch die Abbildung einer von uns unabhängigen Welt? Ein Problem, dem sich die Fotografie immer wieder stellen muss.
Ein weiterer Kernaspekt der Fotografie ist Ihre Unmittelbarkeit. Die Erschließung der Bildinhalte geschieht in Sekundenschnelle und Ihr emotionaler Impact geht ohne Umwege sofort in unser Gemüt, ähnlich wie es auch beim Hören von Musik der Fall ist. Dieses Potential ist gewünscht, es wird damit gezielt gearbeitet und führt auch häufig zu Kontroversen. So wurde die Bildzeitung vor einiger Zeit mit einem Shitstorm überzogen, nachdem sie die Fotografie eines ertrunkenen, an die türkische Küste gespülten Flüchtlingskindes auf ihrer Titelseite brachte. Imaginär? Nein sehr realistisch und damit beinahe nicht zu ertragen. Daraufhin erschien eine Ausgabe komplett ohne Bilder, um die Absurdität eines Journals (wenn auch nicht gerade eines der seriösesten) ohne Abbildungen vorzuführen. Das war überzeugend. Selbstverständlich sind auch positive Beispiele mit einer ähnlichen Kraft vorzufinden.
Fotografie und Gesellschaft
Damit kommen wir zu der vielleicht wichtigsten und allgemeinsten Frage, die hier nur kurz behandelt werden soll. Kann Fotografie die Gesellschaft voranbringen, verändern? Als Reaktion auf die Veröffentlichung des eben erwähnten Bildes, von dem er sich als Vater tief bewegt zeigte, hat in 2015 David Cameron unerwartet entschieden, dass Großbritannien auch Flüchtlinge aufnehmen sollte, was bis dahin konsequent verweigert wurde. Wortbeiträge die in Form von Berichten über gekenterte Flüchtlingsboote veröffentlicht wurden hatten offenbar keine ausreichende Wirkung entfaltet, um eine solche Entscheidung herbeizuführen. Ein einziges Bild hat gereicht. Dies wäre ein Beispiel für die mögliche Wirkung der Fotografie auf politisches Handeln. Es gibt weitere Beispiele, jedoch ist bilanzierend festzustellen, dass sie überschaubar sind und hier eine konziliante Bescheidenheit angebracht ist. Insbesondere bei der Kriegsberichterstattung, geht von den Journalisten häufig die Vorstellung von einer heilsamen Abschreckung ihrer Bilder aus, wie etwa bei James Nachtwey, einem der bekanntesten Fotografen Amerikas, der seine Bilddokumente als Antidot gegen die kriegerischen Konflikte betrachtet, von denen er berichtet. Das möchten wir ihm glauben, müssen aber feststellen, dass dies nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt. Überhaupt ist dieses journalistische Genre von einer tiefen Zwiespältigkeit durchzogen, worüber in meinen Fotografie-Veranstaltungen für die fortgeschrittenen Semester stets lebhaft diskutiert wird.
Weiterer Verlauf
Diese kurze Abhandlung als eine erste Annäherung an eine Theorie der Fotografie (die allenfalls als Agglomerat von Textbeiträgen aus unterschiedlichen Epochen verfügbar, aber nicht in ausgearbeiteter monolithischer Form vorzufinden ist), mag als Einstimmung auf unser Fotografiemodul genügen. Im weiteren Verlauf steht der Praxisbezug mit verschiedenen Erläuterungen und Übungen zu Technik und Gestaltung im Vordergrund. Es folgen, ebenfalls in einer briefähnlichen Form, Erläuterungen zu den Grundfunktionen der Kamera, manuelle Einstellungen und Übungsaufgaben mit Erläuterungen und Beispielen. Ich hoffe, Ihr Interesse und die Motivation zu einer aktiven Teilnahme wecken zu können.
Kassel,
SoSe 2020
Mit herzlichen Grüßen
Jürgen Frankenstein-Frambach